Martin Spiegler

Neue Wege in der Therapie des chronischen Tinnitus 

Grundzüge des therapeutischen Settings
und Vorstellung der Tinnitus-Trance

New Approaches in the Therapy of Chronic Tinnitus.
Basic Therapeutic Setting and Presentation of the Tinnitus Trance

Summary
The article offers a definition and etiology of the problem of chronic tinnitus and outlines conventional medical and psychological-psychotherapeutic treatment approaches. The main focus is on a new therapeutic concept developed by the author which points to the essentials of tinnitus therapy and presents the tinnitus trance as a special therapeutic option.

Zusammenfassung
Zur Therapie bei chronischem Tinnitus werden Definition und Ätiologie der Problematik sowie konventionelle medizinische und psychologisch-psychotherapeutische Behandlungsansätze vorgestellt. Im Mittelpunkt steht ein vom Autor neu entwickeltes therapeutisches Konzept, das auf die wesentlichen Essentials einer Tinnitustherapie hinweist und als besondere therapeutische Möglichkeit die Tinnitus-Trance vorstellt.


Keywords:

chronic tinnitus – essentials of therapy – tinnitus trance – music therapy

 

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Wir leben mit einer von Jahr zu Jahr dichter werdenden Geräuschkulisse um uns herum. Der Lautstärkepegel der Grundgeräusche in der sog. zivilisierten Welt hat sich innerhalb von fünfzig Jahren mehr als verdreissigfacht (vgl. Liedtke, 1988) . Für viele Menschen gibt es – angesichts extensiven Verkehrs- und Arbeitsplatzlärms – kaum noch Zeiten, in denen das Gehör Ruhe findet, während wir gleichzeitig damit beschäftigt sind, unsere öffentliche wie private Welt masslos in geräusch- aber nicht unbedingt sinnvoller Weise weiter durchzuautomatisieren.

Diesem uns kollektiv treffenden Verlust von Ruhe steht ein akustisches Phänomen gegenüber, dem eine erhebliche Zahl von Menschen ausgesetzt ist, völlig damit alleine und teilweise isoliert. Die Rede ist von „chronischen Ohrgeräuschen“ auch „Tinnitus“ genannt. Es scheint, dass mehr und mehr Menschen davon betroffen sind. In meiner Arbeit in der klinischen Psychosomatik wie auch in der freien Praxis ist ein deutlich vermehrtes Auftreten des Tinnitus als sekundäres Symptom zu verschiedensten psychischen und somatischen Beschwerden zu beobachten, derentwegen eine ambulante oder stationäre Psychotherapie aufgesucht wird. Verschiedene Kliniken haben – nicht zuletzt angesichts der Krise auf dem Gesundheitsmarkt – begonnen, auf das lukrative, da noch wenig erschlossene Klientel zu reagieren ( z.B. Bad Arolsen als Tinnitus-Spezialklinik oder die Hardbergklinik, Waldmichelbach mit einem speziellen Indikationsangebot ) Demgegenüber scheint der Tinnitus bislang in psychotherapeutischen Überlegungen im engeren Sinn eine noch untergeordnete Rolle zu spielen.

Das mag z.T. daran liegen, dass der Tinnitus von vielen Psychotherapeuten immer noch eher dem HNO-ärztlichen Bereich zugeschlagen wird, und daran, dass schlüssige psychotherapeutische Konzepte, auf die zurückgegriffen werden könnte, noch weitgehend fehlen. Einen wichtigen Anteil an der bestehenden Situation haben aber auch die Betroffenen selbst, besteht doch bei vielen die ausgeprägte Tendenz zu einem schamvollen Verstecken dieser Problematik – was angesichts eines Symptoms, das körperlich so schwierig lokalisierbar und von aussen – selbst mit medizinischer Diagnostik – nicht erfassbar ist auch irgendwie verständlich scheint. Die Schulmedizin tut das Ihrige dazu mit Prognosestellungen, die Aussichtslosigkeit suggerieren und einer Resignation Vorschub leisten. Bereits vorhandene Selbstzweifel der Betroffenen werden so häufig noch verstärkt. Der Vorwurf des Simulierens – v.a. im Zusammenhang mit Tinnitus-bedingter Arbeitsunfähigkeit – kann schliesslich zu tiefer innerer Emigration führen, in der nur noch das Verharren in der Abgeschiedenheit der eigenen Trostlosigkeit bleibt.
Paradoxerweise halten trotzdem viele Betroffene hartnäckig an der Suche nach – immer neuen – medizinischen Behandlungsangeboten fest und sind oft nur schwer für eine psychotherapeutische Sichtweise zu gewinnen.

Was ist der Tinnitus ?

Der Tinnitus, lat. tinnitus aurium = Ohrenklingen , ist ein im Inneren des Ohrs oder Kopfes zu hörendes Geräusch, das als Rauschen, Brummen, in Flatter- oder Klirrgeräuschen, am häufigsten jedoch als hoher oder hochfrequenter Ton wahrnehmbar ist. Er wird nicht selten mit dem sog. Fernsehton assoziiert. Es handelt sich dabei nicht unbedingt um ein krankhaftes Symptom. Im schalldichten Studio würden etwa 90-95% der Bevölkerung Ohrgeräusche registrieren – schon alleine durch das Rauschen des Blutflusses in den Gefässen (vgl. Heller und Bergman 1953, und Scott und Lindberg, 1992).

Der Tinnitus kann nur von den Betroffenen selbst gehört werden und ist von aussen nicht wahrnehmbar. Er tritt oft als ein, in der Lautstärke manchmal deutlich schwankendes, Dauergeräusch oder als Dauerton auf. Betroffen können beide Ohren sein, sowohl ein- als auch beidseitig, die linke Seite scheint bevorzugt. Bei beidseitigem Tinnitus können Unisono- oder Intervall-Töne auftreten, letztere manchmal in schrill-dissonantem Abstand.

Häufig gehen mit der Tinnitusproblematik ( sekundäre) z.T. erhebliche seelische Belastungsreaktionen einher, wie massive Selbstwertproblematik, Depressionen, sozialer Rückzug bis hin zur Suizidalität. Man unterscheidet eine kompensierte Form des Tinnitus, bei der keine wesentliche Beeinträchtigung der Lebensqualität zu registrieren ist von einer dekompensierten, die mit erheblichen Belastungen und Einbussen verbunden ist.

In Deutschland geht man von ca. 600 000 – 800 000 Menschen aus, die unter chronischen Ohrgeräuschen leiden (Goebel, 1992 u. Hocker, 1997).

Genese

Ohrgeräusche können in jedem Alter auftreten. Es scheint jedoch einen quantitativen Anstieg in der zweiten Lebenshälfte zu geben. Zu den vielfältigen Ursachen werden akute Knallverletzungen des Gehörs, chronische Lärmschädigungen, Hörsturz und andere mit Hörverlust verbundene Krankheiten gezählt. Vermutet werden auch Zusammenhänge mit Erkrankungen des Zentralnervensystems, Durchblutungsstörungen und Stoffwechselerkrankun-gen, Störungen des Kiefergelenksbereiches sowie degenerative Veränderun-gen der Halswirbelsäule mit chronischen Muskelverspannungen. Daneben können Ohrgeräusche auch auf reversible organische, wie z.B. gefässbedingte, Prozesse zurückgehen (vgl. Lenarz, 1992, und Neuhauser 1992).

Auf psychischer Ebene werden insbesondere seelische Belastungssituationen ( wie anhaltender Stress oder massive Überforderung u.ä. ) als ursächlich angenommen (vgl. Hocker 1997). Daneben gibt es eine grosse Anzahl Betroffener, bei denen keine ursächlichen Zusammenhänge zu erkennen sind. Allerdings lassen sich bei der therapeutischen Konfliktbearbeitung auffallend häufig Themen des Ausgeliefertseins eruieren ( z.B. eine als unentrinnbar erlebte, schwierige Beziehung zu einem Elternteil oder ein schwieriges, unbeeinflussbares Schicksal, wie Krieg, Heimatverlust u.ä.). Bei der innerpsychischen Dynamik ist zu beobachten, dass die Fähigkeit, sich fallenzulassen, und die Genuss- und Hingabefähigkeit oft deutlich gestört sind.

Der Tinnitus kann in manchen Fällen mit einer gleichzeitigen partiellen Schwerhörigkeit im oberen oder unteren Frequenzspektrum des normal hörbaren Bereichs einhergehen – v.a. wenn er auf ein Lärmtrauma oder Hörsturz zurückgeht. Man unterscheidet zwischen einem akuten oder „frischen“ Tinnitus ( bis zu einer Dauer von mehreren Wochen ) und einem „chronischen Tinnitus“ (ab ca. drei Monaten Dauer ). Das ist für die Art der Behandlung insofern von Bedeutung, als beim frischen Tinnitus verschiedene medizinische Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden.

In einigen Fällen kann es – auch ohne Behandlung – zu Spontanremissionen kommen, im Lauf der Zeit ( oft allerdings erst nach Monaten bis Jahren ) verringern sich meist Intensität und Lautstärke – sei es durch subjektive Faktoren wie Gewöhnungseffekt oder durch andere, bisher nicht bekannte Mechanismen ( vgl. Lenarz, 1992).

Konventionelle Behandlungsansätze

Beim frischen Tinnitus werden verschiedene medizinische Behandlungs- möglichkeiten angeboten. In erster Linie sind dies durchblutungsfördernde und sauerstoff-anreichernde Verfahren. Die Behandlung wird medikamentös, mit Infusionen oder im Rahmen der sog. Hyperbaren Therapie ( in der Druckkammer) durchgeführt. Ziel dabei ist eine möglichst rasche Regeneration potentiell geschädigter Hör-Sinneszellen (Flimmerhärchen ) in der Cochlea des Innenohrs. Die nur bei einem Teil der Betroffenen wirksamen Methoden erweisen sich beim chronischen Tinnitus als weitgehend bedeutungslos. Nach dem heutigen medizinischen Wissensstand stehen auch keine anderen erwähnenswerten Verfahren zur Verfügung.

Physiotherapeutische und Entspannungsverfahren gehen von der Hypothese eines Zusammenhanges zwischen Ohrgeräuschen und funktionellen Störungen des Halswirbelbereiches aus und setzen die Behandlung im Bereich dort lokalisierter Muskelverspannungen an ( Biesinger, 1993 ). In speziellen zahnärztlichen Behandlungen sollen Fehlstellungen des Unterkiefers und Verspannungen der Kaumuskulatur, über die ebenfalls als Ursachen spekuliert wird, korrigiert werden ( vgl. Neuhauser, 1992 ).

Schliesslich wird in der Neuraltherapie versucht, durch die lokale Unterbrechung von Nervenleitungen eine Dämpfung des Tinnitus zu erreichen. Dieses Verfahren gilt als ebenso umstritten, wie die – aus mancher Verzweiflung geborene – chirurgische Durchtrennung des Hörnervs. Zwar führt diese zur Taubheit ( die von manchen PatientInnen dem Tinnitus vorgezogen wird ), jedoch bleibt der Tinnitus meistens trotzdem bestehen ( vgl. Lenarz, 1992 )

Alle genannten Verfahren gelten als zumindest kontrovers diskutiert. Einigen, wie der physiotherapeutischen Behandlung, kommt aber eine bedingte Rolle als ergänzende Massnahme zu.

Psychologisch-psychotherapeutische Konzepte

Psychosomatische Modelle wie die von Rienhoff (1998) gehen häufig ebenfalls von einem Zusammenhang zwischen Ohrgeräuschen und Dysfunktionen der Halswirbelsäule aus. Durch die Bearbeitung von hinter dieser Symptomatik stehenden Konflikten sollen die eigentlichen psychischen Ursachen des Tinnitus erkannt und reduziert werden. Bei den kognitiven Ansätzen steht die Veränderung des Wahrnehmungsfokus ( also etwa die Auflösung der akustischen Fixierung auf den Tinnitus ) und der tinnitus-abhängigen negativen Selbstbilder im Mittelpunkt ( vgl. Rabaioli-Fischer, 1992 ). Stressbewältigungsprogramme und Entspannungs- verfahren ( wie die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen oder das Biofeedback) sehen den Tinnitus ebenfalls hauptsächlich im Kontext mit chronischen Muskelverspannungen und Stressfaktoren. Über die Instruktionen der Entspannungsverfahren kann zumindest die – bis dato stark auf den Tinnitus fixierte – Aufmerksamkeit temporär abgelenkt, und eine vorübergehenden Entlastung vom Gefühl des Ausgeliefertseins erreicht werden. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Tinnitus und Muskelverspannungen ist jedoch m.E. nicht schlüssig erwiesen. Umgekehrt könnten die Verspannungen auch eine Folge des Tinnitus sein.

Bei der sog. Maskertherapie werden alltägliche Umgebungsgeräusche ( wie Ventilator- und Verkehrsgeräusche oder eine Rundfunkklangkulisse u.a.) mit den sog. „Maskern“ ( speziellen Hörgeräten ) dem Ohr zugeführt, um den jeweils charakteristischen Tinnitus durch spezifische Geräusche zu überdecken. Damit soll eine „Entwöhnung“ vom Tinnitus erreicht werden (vgl. Feldmann, 1992 ). Die Bedeutung dieses Verfahrens ist – nach meiner Erkenntnis – ebenfalls vor allem in einer zeitweisen Unterbrechung der Spirale des Ausgeliefertseins zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit einer Reduktion des Tinnitus ( wenn auch nur subjektiv erlebt ) liegt bei max.10 bis 20%.

Hypnotherapeutisch wird auf suggestivem Weg eine Veränderung der Aufmerksamkeitsfokussierung und -gewichtung angepeilt, um die Bedeutung des Tinnitus im persönlichen Erleben zu minimieren oder zum Positiven hin zu verändern. Eine kausal erscheinende Verknüpfung des Tinnitus mit angenehmen Vorstellungen ( z.B. mit einem Sonnenuntergang am Meer oder anderen auf das allgemeine Wohlbefinden abzielenden Bildern ) soll die negative Besetzung des Symptomes auflösen ( Marlow, 1973). Die Überführung der scheinbar unveränderlichen akustischen Wahrnehmungsebene auf eine besser beeinflussbare, wie z.B. die visuelle, soll wegführen von der Opferrolle, hin zu selbstbestimmtem Handeln. Es wird davon ausgegangen, dass ein Tinnitus, der beispielsweise mit einer Farbe oder einem Bild assoziiert werden kann, auf dieser neuen Ebene gestalterisch beeinflussbar wird. In der eigenen Vorstellung zum Angenehmen hin veränderte Farben / Bilder ( z.B. auch über das Malen ) können dann eine rückbezügliche Wirkung auf Art und Qualität des Hörerlebens haben.

Die sog. „Tinnitus Retraining Therapy“ ( vgl. Jastreboff, 1990 ) sieht im Tinnitus in erster Linie eine reversible, da zentrale Verarbeitungsstörung von Höreindrücken im Gehirn. Es handelt sich bei diesem Verfahren um ein Mischkonzept aus Aufklärung, Verringerung tinnitusbedingter Stressreaktionen und einer Behandlung der durch den Tinnitus ausgelösten oder ihn begleitenden psychosomatischen Störungen. Zusätzlich soll über den Einsatz eines speziellen Rauschgenerators (über eine Art Hörgerät) eine Veränderung der Tinnitushörgewohnheiten erzielt werden.

Essentials der Tinnitus-Therapie

Die vielen Begegnungen mit unter chronischen Ohrgeräuschen leidenden Menschen, die mit ihrem Symptom oft nur schwer zu erreichen sind, waren einer der Gründe, mich näher mit dieser Problematik zu befassen. Der andere, ausschlaggebendere ist meine „Faszination“ über dieses akustische Phänomen ( meines Wissens das einzige nicht-halluzinatorische ), das sich auf der gleichen Sinnesebene abspielt, wie mein zentrales therapeutisches Medium.

So versuchte ich, im Kontakt mit Betroffenen, die sich meiner therapeutischen Begleitung anvertraut hatten, einen besseren Einblick in die besondere Thematik dieser akustischen Erscheinung zu bekommen. Hierüber, und über Gespräche und Diskussionen mit Tinnitus-Erfahrenen, die bereits mehr oder weniger gangbare Wege für sich gefunden hatten, kristallisierten sich dabei allmählich einige Essentials heraus, die ich für den Umgang mit dem Tinnitus für sinnvoll und hilfreich halte.

In der Regel finden Tinnitusbetroffene erst in einem fortgeschrittenen, chronischen Stadium den Weg zur Musiktherapie, oft nachdem alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Bevor die musiktherapeutische Begleitung beginnt sollte auf jeden Fall eine HNO-ärztliche Abklärung erfolgt sein, um reversible organische Prozesse auszuschliessen (z.B. vaskuläre Veränderungen, Trommelfellperforation u.a.).

Am Anfang der Therapie hat es sich als unentbehrlich erwiesen, zunächst den oftmals massiven, jedoch unnötigen, Ängsten über mögliche Folgeschäden des Tinnitus ( v.a. im Ohr oder beim Gehör ) entgegenzuwirken.

Hoffnung stellt eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer Therapie dar. Deshalb muss der manchmal tiefen Hoffnungslosigkeit, die in erfolg-losen medizinischen Behandlungen eingepflanzt wurde („da kann man nichts machen“ oder „Sie müssen halt damit leben“ oder „Tinnitus ist unheilbar“), ein an den weiter gefassten psychotherapeutischen Möglichkeiten orientierter realistischer Entwurf entgegengesetzt werden.

Natürlich gehört zu einer berechtigten Hoffnung auch die Grundierung mit einem sinnvollen und realistischen Therapieziel. Dies trifft in besonderem Masse beim Tinnitus zu, bei dem sich der Blick der Betroffenen nur allzuoft ( und allzu verständlich ) auf das schnellstmögliche Loswerden des verhassten Objektes verengt hat. Da aber weder TherapeutIn noch PatientIn in der Lage sind, Ohrgeräusche intentional zu beeinflussen, hiesse es, die Gefahr unnötiger Frustration und Resignation heraufzubeschören, wenn als zentrales Therapieziel das „Verschwinden des Tinnitus“ gesetzt würde. In der Praxis hat es sich bewährt, ein „mit dem Tinnitus leben zu lernen“ als primäres Ziel anzuvisieren. Der Vorteil, der sich für KlientInnen aus dieser Adaptation an die vorläufige Persistenz des Tinnitus ergibt, ist der, wieder Handlungsspielraum zu gewinnen und damit gleichzeitig einen Schritt aus dem Gefühl der Abhängigkeit ( vom Symptom) und dem Ausgeliefertsein heraus vollziehen zu können. Auf einer tieferen Ebene geht es darum, den Tinnitus als das zu akzeptieren, was er ist: ein Teil der eigenen Person – wenn auch ein bisher ungeliebter. Erst mit dieser neuen Einstellung zum Tinnitus als einem konstituierenden Teil des ( augenblicklichen ) Selbst kann die Hinwendung zu den vielleicht sinnstiftenden Aspekten und den auf der psychosomatischen Reaktionsebene verstehbaren Signalen erfolgen. Dann können sich Entwick-lungen abzeichnen, wie die des 45jährigen Mannes, der den Tinnitus plötzlich als Verbündeten zu erleben und schätzen begann, weil dieser – im Verlauf der Therapie allmählich in den Hintergrund getreten – sich immer dann wieder deutlicher vernehmbar machte, wenn er Gefahr lief, sich zuviel zuzumuten, sich zu überfordern. Zurückgehend auf eine frühe Parentifizierung hatte er sich Zeit seines Lebens übermässig für andere verantwortlich gefühlt.

Anfangs beschäftigte mich im klinisch-stationären Rahmen die Frage, ob die Gruppentherapie einen günstigen Rahmen für Tinnitus-KlientInnen abgibt. Nicht wenige Betroffene geben ihr Ohrenproblem erst im zweiten „Nachfassen“ preis, manchmal sogar erst am Ende ihres Klinikaufenthaltes – und dann nicht selten mit Verbitterung über die akustischen Qualen, denen sie sich in der Musiktherapie schutzlos ausgesetzt sahen. In der Tat können musikalische Gruppenprozesse eine grosse Herausforderungen oder Überforderung für die oftmals sehr verletzlichen Ohren darstellen. Als besonders problematisch erweist es sich, wenn durch eine gleichzeitige partielle Schwerhörigkeit die Kommunikation mit der Gruppe zusätzlich erschwert wird. Bei den Diskussionen und „Verhandlungen“ innerhalb heterogen zusammengesetzter Gruppen erscheint es zuweilen schwierig, zufriedenstellende Agreements herzustellen, die sowohl den Nöten der vom Tinnitus geplagten Teilnehmer, als auch den manchmal diametral entgegenstehenden Bedürfnissen der übrigen Mitglieder gerecht werden. Als Konsequenz halte ich ein zusätzliches oder alternatives einzeltherapeutisches Angebot für sinnvoll. Sehr bewährt hat sich zwischenzeitlich eine ( Tinnitus-) spezifische Indikationsgruppe, die ich als ergänzendes Angebot eingerichtet habe.

Inhalte der Therapie

Zunächst stellte sich mir die Frage nach der inhaltlichen Ausrichtung der Therapie. Ist, abhängig vom Entstehungszusammenhang ( lärmtraumatische u.ä. auf der einen und psychogene auf der anderen Seite ) eher ein psychosomatisches Vorgehen, bei dem die Bearbeitung möglicher psychischer Faktoren im Blickpunkt steht, oder eine somatopsychische Ausrichtung, also das bestmögliche Umgehen-Lernen mit einem als unveränderlich eingestuften Symptom angezeigt ?

In der Praxis stellte sich heraus, dass keine genaue Trennlinie zu ziehen ist. Die Grenzen sind insofern fliessend, als der Tinnitus – wie vielleicht kaum ein anderes Symptom – unabhängig von der therapeutischen Intention oftmals eine begleitende Symptomorientierung erfordert. Dies ist deshalb von Bedeutung, da die Dynamik des Ausgeliefertseins und der Verzweiflung oft im Vordergrund steht. Dabei ist auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass für den Tinnitus keine kurzfristig entlastenden medizinischen Verabreichungen zur Verfügung stehen, wie z.B. bei chronischen Schmerzzuständen, die in der Regel mit Medikamenten unterbrochen werden können.

Bei lärmtraumatisch bedingten Ohrgeräuschen verwischen sich die Grenzen der Therapieorientierung dadurch, dass nicht selten im Verlauf der Therapie zusätzlich eine innere, psychische Problematik zum Vorschein kommt. ( Hier gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass Lärmtraumata, Hörsturz u.ä nicht zwangsläufig mit Tinnitus verbunden sind. Es steht also die Frage im Raum, welche zusätzlichen ätiologischen Gesichtspunkte zur Entstehung des Tinnitus geführt haben könnten.). Die Betroffenen selbst sind zu Beginn der Therapie meist symptomatisch-somatogen orientiert.

Für einen zufriedenstellenden Therapieverlauf kommt der Einstellung der Betroffenen gegenüber dem Tinnitus eine fundamentale Bedeutung zu. Meist steht der Wunsch nach einer möglichst raschen und bedingungslosen Befreiung von den Ohrgeräuschen an allererster Stelle. Dies kann aber nicht – wie vorher schon ausgeführt – als günstige Voraussetzung für das Gelingen einer Therapie betrachtet werden. Es gilt deshalb, ohne Umschweife den bestmöglichen Weg aus dem Kampf gegen den Tinnitus heraus zu finden.

Folgende Überlegungen sind dabei zu berücksichtigen: Unser Gehörorgan besitzt eine ausschliesslich aufnehmende und empfangende Funktion. Die Eindrücke, die an unser Ohr gelangen, können nur gesammelt und rezipiert werden, das Ohr besitzt keine Möglichkeit, unliebsame Geräusche herauszufiltern und sich davor zu schützen ( ganz im Gegensatz zum Auge, das in die Welt eindringt und das sich zum Schutze schliessen kann ). Beim Tinnitus nun, der sich bereits im Ohr oder Kopf befindet, fällt selbst die Möglichkeit des Ohren-Zuhaltens weg. D.h., jeder noch so verzweifelte Versuch, sich gegen den „Eindringling“ zu schützen bleibt wirkungslos. Wenn es gelingt, aus dem Kampf herauszugehen und sich dem Tinnitus zuzuwenden, kann ein Grundstein zur Auflösung der bisherigen Opferstatus-Dynamik gelegt werden. Die Erfahrung, eine Position des bewussten Handelns zurückzugewinnen, stellt gleichzeitig eine wesentliche Voraussetzung dafür dar, aus der Spirale von Ohnmacht und Verzweiflung herauszugelangen. Mit der Beendigung der Projektion des Tinnitus kann auch dessen bisher als von aussen kommend erlebte Macht durchbrochen werden und damit einhergehend kann die emotionale Einstellung dem Tinnitus gegenüber konstruktiv verändert werden. Eine ( durch verschiedene Meditationstechniken inspirierte ) geeignete Übung hierzu stellt z.B. das „Einladen des Tinnitus“ dar. Für eine begrenzte, nicht überfordernde Zeit ( etwa 5 oder 10 Min.) wird der Tinnitus angenommen, wird ihm zugehört, seinem Klang und sogar dem, was er evtl. zu „sagen hat. Häufig kann dann die Erfahrung gemacht werden, dass ein aktives Zuhören (sich-Zuwenden ) wesentlich weniger quälend ist, als passives Ertragen.

Ein weiterer Punkt beschäftigt sich mit der dominanten Position, die der Tinnitus innerhalb des Aufmerksamkeitsspektrums erhalten hat. Hier ist es wichtig, den Tinnitus wieder aus der zentralen in eine subalterne Position zu verlegen, damit das Ich auf den ihm angemessenen Platz im Zentrum der Lebensgestaltung zurückkehren kann ( der zwischenzeitlich an den Tinnitus abgegeben wurde). Dazu ist es hilfreich, wieder zu einer breiteren Streuung unterschiedlicher, besonders auch angenehmer Hörerfahrungen zurückzufinden, um die auf den Tinnitus und andere unangenehme Hör-Qualitäten fixierte Aufmerksamkeit wieder aufzuheben. Die Musiktherapie mit ihrer Fülle an unterschiedlichen Klang- und Geräuschangeboten stellt hier geradezu optimale Möglichkeiten zur Verfügung.

Ich sehe noch jenen verzweifelten 50jährigen Mann vor mir, der wegen einer schweren Depression in die stationäre Behandlung gekommen war, und der, sich mit dem Tinnitus alleingelassen fühlend, fast zum Suizid getrieben worden war. Nach rastlosem Durchlaufen aller möglichen Behandlungsangebote wollte er schliesslich – ohne die geringste Überzeugung – ( dafür mit grossen Ängsten vor zu lauten Geräuschen ) auch noch die Tinnitus-Indikationsgruppe der Musiktherapie „mitnehmen“. Unerreichbar für meine einführenden Worte hatte er sogleich den Regenmacher in einer Ecke des Raumes für sich entdeckt. Mit verklärtem Gesicht blieb er über lange Zeit – das Ohr dicht am Instrument – sitzen, alles um sich herum vergessend. Danach berichtete er tief berührt von seiner überwältigenden Erfahrung, seit vielen Jahren zum ersten Mal für einige Augenblicke den Tinnitus vergessen zu haben und von dem ihm angenehmen Geräusch zum Träumen angeregt worden zu sein.

Dieser bewegende Augenblick stellt beileibe keinen Einzelfall in der Arbeit mit TinnituspatientInnen dar. Gerade über die Möglichkeit des vielfältigen Klangangebotes der Musiktherapie kann für viele geplagte Menschen zum ersten Mal der geschlossene Kreis der ausschliesslich problematischen Hörerfahrung durchbrochen werden. Für viele kann dies der erste aufnehmbare Impuls sein, um denTinnitus aus seiner Position als wichtigstes Geräusch zu entlassen. Die Verknüpfung von „Hören = Störung = unangenehm“ bedarf endlich wieder der Erweiterung um die Dimension des angenehmen, ja des „Genusshörens“. Die entlastende Erfahrung, mit (Komplementär-) Geräuschen in die Lage zu kommen, den Tinnitus zu „schlucken“, kann einen zusätzlichen Schritt heraus aus der bisherigen Dynamik des tatenlos zuhören-Müssens bedeuten. Auch wenn hierbei die Grundproblematik wenig tangiert wird, so verhilft das Entdecken und Erleben dieses neuen und aktiven Gestaltungsspielraumes zum Schöpfen neuen Mutes.

Wenn schliesslich die „erste Hilfe-Massnahmen“ ihren Zweck erfüllt haben, dann kann sich allmählich der nötige Raum für eine Bearbeitung der tieferen Problematik öffnen.

Ich möchte im Rahmen dieses Artikels nicht weiter auf die hierzu üblichen therapeutischen Szenarien eingehen, da sich diese nicht wesentlich von der Bearbeitung anderer psychosomatischer Problematiken unterscheiden.

Die Tinnitus-Trance

Ein spezielles therapeutisches Angebot stellt die von mir entwickelte und seit einigen Jahren praktizierte Tinnitus-Trance dar. Die Idee dazu kam mir im Zusammenhang mit den Erfahrungen, die ich in der Arbeit mit der klanginduzierten Trance (vgl. Strobel., 1992) sammeln konnte. Bei dieser geht es um die therapeutische Nutzung archaischer Klangstrukturen (z.B. Monochord, Gong, Schamanentrommel u.a.) um in veränderte Wachbewusstseinszustände zu gelangen. Die eingesetzten Klänge sind mit spezifisch-archetypischen Themenkomplexen verknüpft. Bei einem der verwendeten Instrumente handelt es sich um die kleine Klangschale, die so gespielt wird ( mittels Reibetechnik ), dass ein kontinuierlich klingender hoher Ton entsteht. Die Erlebnisse und Erfahrungen, die in der Trance mit dieser Klangschale gemacht werden, sind charakteristisch und beziehen sich häufig auf Themen des Ausgeliefertseins – meist an eine Autorität, oder höhere Macht. Die kleine Klangschale verkörpert eine starke Kraft, der man sich entweder hingeben kann – oft mit einem glückseligen Gefühl -, oder sich schmerzlich widersetzen.

Mir fielen die frappierenden Parallelen zwischen den charakteristischen Eigenschaften der kleinen Klangschale und dem inneren Erleben vieler Tinnitusbetroffener auf ( also überwiegend hoher Ton und Dynamik des Ausgeliefertseins).

Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass das Erleben des Ausgeliefertseins nicht nur auf der ( eher vordergründigen ) Ebene des Hörens, sondern in hohem Masse auch bei den lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zu erkennen war ( wie die nachfolgenden Fallbeispiele zeigen werden).

Diese erstaunlichen Übereinstimmungen brachten mich auf die Idee, den bereits vorhandenen Ton/Klang des Tinnitus an Stelle der sonst verwendeten archaischen Klänge, für die Trance zu nutzen.

Das im vorigen Kapitel beschriebene Annehmen-Können des Tinnitus erweist sich als wichtige Voraussetzung, wenn die Tinnitus-Trance nicht als Überforderung erfahren werden soll. Eine besondere Situation ergibt sich aus der Tatsache, dass der Tinnitus – anders als bei der Klangtrance üblich – nicht vom Therapeuten erzeugt wird, ja dieser ihn nicht einmal zu hören vermag. PatienInnen sind mit dem Klang gewissermassen allein. Um der Gefahr einer Überflutung durch auftauchendes Material – mit einer evtl. Wiederholung oder Verstärkung des Gefühls von Ausgeliefertsein – vorzubeugen, erweist es sich als günstig, während der Trance-Phase den verbalen Kontakt aufrechtzuhalten.

Dadurch kann auch eine Begleitung des von der PatientIn in der Trance beschrittenen (inneren ) Terrains durch den Therapeuten gewährleistet werden und es besteht zudem die Möglichkeit, einzugreifen, wo es nötig oder sinnvoll erscheint – sei es um den Blick bei auftauchenden Bildern auf relevant erscheinende Details zu lenken, sei es, um Bedrohliches aus besser erträglichen Blickwinkeln betrachten zu lassen oder nötigenfalls, um das Zurückkommen aus der Trance einzuleiten. Dieses Vorgehen hat sich bewährt, wie aus den Rückmeldungen zu erfahren ist, in denen die Bedeutung des Haltes immer wieder betont wird.

Es versteht sich von selbst, dass diese Art des Vorgehens am besten in einem einzeltherapeutischen Setting aufgehoben ist.

Die Wege, die PatientInnen dabei beschreiten, lassen sich, grob, in zwei Kategorien einteilen: bei der einen treten frühe Konflikte und lebensgeschichtliche Zusammenhänge oder Auslöser ans Tageslicht, – auffallend oft verknüpft mit Erfahrungen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein. In der anderen Kategorie kann das innere Wissen, etwa über nächstmögliche Schritte oder Lösungen in schwieriger Situation oder auch Entscheidungshilfen ins Blickfeld geraten ebenso wie Hinweise auf wichtige, noch ungenutzte Potentiale.

Beispiele

Ich möchte an dieser Stelle exemplarisch zwei Tranceausschnitte schildern, aus denen der schicksalhafte lebensgeschichtliche Zusammenhang sowie der dominante Aspekt des Ausgeliefertseins prägnant hervorgehen.

Eine in einer anthroposophischen Gemeinschaft lebende 60jährige Frau kam wegen eines Erschöpfungssyndromes in stationäre Behandlung. Bei ihr zeigte sich innerhalb der Gruppe eine starke Unfähigkeit zur Abgrenzung. Den Tinnitus, unter dem sie eigentlich sehr litt, brachte sie erst nach mehreren Wochen mit in die Therapie. Als sie soweit war, sich auf eine Tinnitus-Trance einzulassen, fand sie sich als 8jähriges Mädchen in einem Luftschutzkeller wieder, während eines Bombenangriffes. Sie erlebte zunächst eine grosse Panik und sah sich, wie sie sich um ihre jüngeren Geschwister kümmerte, wie ihr – so erinnerte sie sich jetzt – von der in dieser Zeit öfter abwesenden Mutter aufgetragen worden war. Sie konnte erkennen, dass die in der Trance erlebte Panik mit der damaligen Überforderung zu tun hatte, ihre eigenen Todesängsten beiseite stellen zu müssen, um sich in der ihr übertragenen Funktion als Ersatzmutter um die Geschwister kümmern zu können. Über das Erinnern in der Trance gelang es ihr, das verfestigte Muster des für andere dasein-Müssens ( unter existentiellen Gesichtspunkten ) und des Verbotes zur Abgrenzung, zu erkennen. Es wurde ihr klar, dass ihr Erschöpfungssyndrom auf dieses alte Muster zurückzuführen war. Sie hatte es auch innerhalb ihrer Lebensgemeinschaft ständig reproduziert, hatte stets versucht, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen – bis sie schliesslich zusammenbrach.

Herr M. ein 28jähriger Automechaniker, kam mit Angst und Panikattacken in die Klinik. In der Therapie wurde zuerst die Suche nach einer guten männlich-väterlichen Identifikationsmöglichkeit ein zentrales Thema. In der Gruppe fiel er durch übermässiges Kontrollbedürfnis auf. Nach mehreren Wochen geriet unvermittelt sein bis dahin „incognito“ gehaltener Tinnitus ins Blickfeld, der vor 10 Jahren aufgetreten war. Es gelang ihm, trotz seiner starken kontrollierenden Seite, sich auf die Trance einzulassen, in der er sich zunächst gut von seinem Tinnitus führen liess. Die auftauchenden Bilder, hatten etwas Drohendes und mündeten in eine über ihm schwebende schwarze Wolke, die den ganzen Himmel auszufüllen begann. Er fühlte sich darunter völlig allein und ausgeliefert, und erlebte eine trostlose Leere. In dieser Phase wurde er plötzlich unruhig, spürte Kribbeln in den Händen und geriet in eine Hyperventilationstetanie. Er war – trotz beruhigender Worte, mit denen ich ihn durch den eigentlich ungefährlichen Zustand hindurchführen wollte – nicht zu diesem Schritt zu bewegen, sodass ich ihn – um seiner aufsteigenden Panik entgegenzuwirken – zu einem raschen Herauskommen aus der ihm unerträglichen Situation anleiten musste.

Was war geschehen ?

Herrn M. war es – aufgrund seiner guten therapeutischen Beziehung zu mir – zunächst gelungen, sich auf die Trance einzulassen und der Führung durch den Tinnitus anzuvertrauen. Die Angst vor dem Kontrollverlust war jedoch so stark, dass sie sich auf eine andere Ebene verlagerte, die der Angst vor dem Fallenlassen im Zusammenhang mit der Hyperventilation. Herr M. konnte dennoch von diesem Erlebnis profitieren, da ihn die in der Trance auf massivste Weise wiedererlebte Angst in eine zehn Jahre zurückliegende Situation führte: er war ein ungewolltes Kind gewesen, und hatte das vor allem von seinem Vater zu spüren bekommen, von dem er sich weitgehend alleingelassen fühlte. Die wenigen Momente näheren Kontaktes waren häufig davon geprägt, dass er von seinem Vater geschlagen wurde. Dieser drohte, ihn aus dem Hause zu werfen, sobald er volljährig sei. Als Herr M. achtzehn wurde, passierte jedoch eine für ihn unerwartete Kehrtwendung des Vaters. Der versuchte plötzlich, sich mit seinem Sohn zu versöhnen, und leistete Abbitte für das, was er ihm angetan hatte.. Überrascht und überglücklich über diese Wendung wurde Herr M. kurz darauf mit dem Suizid des Vaters konfrontiert. In dieser Zeit begann der Tinnitus.

Es liessen sich eine Reihe weiterer, z.T. ähnlich drastische, Beispiele zitieren, in denen immer wieder Erfahrungen des ohnmächtig Ausgeliefertseins sichtbar werden, sei es über unvermeidliche Schicksalsschläge wie Krieg, Unterdrückung oder der Tod naher Menschen, sei es über individuell als unlösbar erlebte familiäre oder aussichtslose berufliche Situationen, seien es als unentrinnbar erlebte Erfahrungen wie Einsamkeit, Vergewaltigung u.a..

Zur zweiten Kategorie, die dem Zugang zum innerem Wissen über die eigenen Potentiale vermittelt, folgendes Beispiel: Ein 54jähriger, in einer psychologischen Beratungsstelle tätiger Theologe kam wegen Depressionen und starker Gewichtsabnahme in die Therapie. Er fühlte sich an seiner Arbeitsstätte nicht mehr wohl, seitdem ein neuer Leiter von aussen dazugekommen war. Beiläufig erzählte er von einem quälenden Tinnitus, mit dem er sich allerdings – wenn auch zähneknirschend – abgefunden habe. In der Tinnitus-Trance sieht er sich, wie er ein neues Haus bezieht, von dem aus er einen wesentlich weiteren Blick hat, als aus seinem bisherigen. Er sieht eine schöne Landschaft, die ihn so fasziniert, dass er hinausgeht, um sie zu durchwandern und den Horizont zu erkunden. Unterwegs fühlt er sich glücklich wie lange nicht mehr.

In der gemeinsamen Deutung erkennt er in diesem Bild seine Möglichkeiten des tatsächlichen Hinausgehens – aus der bisheriger Arbeitsstelle – und zur Erschliessung neuer Horizonte. Er bekommt – beim Reden darüber deutlich lebendiger werdend – wieder Anschluss an seine – zwischenzeitlich auf Eis gelegten – Pläne, ein eigenes Projekt zu verwirklichen. Alternativ findet er aber auch die Option, die ihm einen Verbleib in seinem bisherigen Arbeitsbereich möglich macht: er sieht, dass es für ihn auch darum geht, seinen Raum in Anspruch zunehmen und erzählt, dass eigentlich er mit der Beförderung in die Leitungsposition an der Reihe gewesen wäre, jedoch mit der Anmeldung seines Anspruches so zurückhaltend gewesen sei, dass er leicht zu übergehen war.

Schlussbetrachtung

Therapeutisches Gelingen beim Tinnitus ist möglich. Die heilsame Dynamik, die darin liegt, das Unvermeidliche anzunehmen, erweist sich in der Praxis als der wichtigste Schlüssel zur Veränderung. Die Menschen, die sich meiner therapeutischen Begleitung anvertraut haben und damit auch meinem eigenen Suchen nach einem guten therapeutischen Weg, waren gleichzeitig meine bestmöglichen Lehrer. In dem gemeinsam bestellten Feld fanden viele von ihnen ein Substrat, auf dem ein tragfähiges Arrangement mit dem Tinnitus wachsen konnte. Der Tinnitus konnte zu einem erträglichen Begleiter werden, der keine wesentliche Belastung mehr darstellte. Manche KlientInnen wollten gar auf seine „Dienste“ nicht mehr verzichten, die sie als Unterstützung in schwierigen Situationen kennengelernt hatten. Daneben gab es eine erstaunliche Anzahl Betroffener, die sich ganz allmählich von ihren Ohrgeräuschen lossagen konnten.

Was die Erfahrungen mit der Tinnitus-Trance anbelangt, so konnte ich feststellen, dass in manchen Fällen erst über sie der Weg zum eigentlichen Thema gangbar wurde. Sie stellt heute einen unverzichtbaren Bestandteil meiner Arbeit mit Tinnitusbetroffenen dar.

Literatur

Biesinger, E. (1993): Chirotherapeutische Faktoren bei Erkrankungen in der HNO-Heilkunde. HNO aktuell 1.

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Der Artikel wurde in der „Musiktherapeutischen Umschau“ Band 21, Heft 2, 2000 veröffentlicht.

Alle Rechte sind beim Verlag Vandenhoeck & Rupprecht in Göttingen und bei der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie in Berlin. Der vorstehende Beitrag darf ohne Genehmigung des Verlages nicht weiterverbreitet oder veröffentlicht werden.

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